22.03.2013
Zwischen Kontaktvermeidung, guter Begegnung und Grenzverletzung
auf der Suche nach einem professionellen Korridor für Psychotherapie und Beratung
Fachtagung
Kassel, zusammen mit Ellen Spangenberg
Als Therapeut_innen und Berater_innen sind wir „als ganze Person“ in der Arbeit gefordert. Eine Arbeit, die auch und sehr wesentlich Beziehungsarbeit ist. Zugleich leben wir dabei eine „Rolle“. Persönliche, genauer: private Bedürfnisse haben hier nichts verloren. Unser Handeln erfolgt ausschließlich im Interesse des Prozesses, im Sinne der Klientin.
So weit, so klar, so einfach (?).
Aber wo genau fängt ein persönliches, präziser: privates Bedürfnis an?
Welche „Präsenz“, Echtheit, Ehrlichkeit ist nicht nur akzeptabel, sondern gar geboten?
Wann kann es angemessen sein, persönlich Stellung zu nehmen z.B. zu Kritik, statt das Problem ausschließlich dem Klienten zurückzugeben, und sein Anliegen damit zu pathologisieren und zu individualisieren?
Und wann kann es sinnvoll sein, eine eigene Erfahrung einfließen zu lassen – und wie – oder nie? Wann oder wie genau wird die Grenze der rollenmäßigen Angemessenheit überschritten?
Welche „Abstinenz“ lässt die Klientin allein, welche „Abstinenz“ ist unabdingbar, damit der Klient einen sicheren Rahmen hat?
Wie viel Spielraum, wie viel gemeinsame Begegnung ist innerhalb der Rollen möglich?
Ist jede Rollenverletzung eine Grenzverletzung? Welche, welche nicht?
Ist jede Grenzverletzung ein Missbrauch? Welche, welche nicht?
Wie tragen wir innerhalb dieser asymmetrischen Beziehung zu Abhängigkeit eines Patienten, wie zu Unabhängigkeit und Augenhöhe bei?
Sind wir frei? Brauchen wir eine Klientin? Wofür? Können wir sie gehen lassen?
Verlängern wir eine Therapie oder Beratung, weil uns die Arbeit gut tut, obwohl der Prozess abgeschlossen werden könnte und sollte? Ist dies bereits und immer finanzieller oder emotionaler Missbrauch?
Und umgekehrt: Ist es legitim, Klient_innen (weitere) Unterstützung zu entziehen, wenn es uns zu anstrengend wird?
Sind Geschäftsbeziehungen während laufender Therapie und Beratung manchmal zu rechtfertigen?
Dürfen Klienten Dienstleistungen erbringen als Gegenwert für Psychotherapie und Beratung?
Dürfen wir Fallbeispiele sowie Texte und Bilder unserer Klientinnen (mit oder ohne deren Einverständnis) für eigene Vorträge und Publikationen verwenden?
Können bei Therapeut_innen Gefühle von Verliebtheit, Begehren entstehen? Oder sind sie stets „nur“ als eigene Übertragung bzw. Gegenübertragung zu interpretieren?
Ist jede sexuelle Beziehung zu einer (früheren) Klientin sexueller Missbrauch?
Sind die von den Berufskammern vorgeschlagenen Abstinenzzeiten ausreichend?
Welcher Umgang mit Verliebtheiten und erotischer Anziehung ist professionell und persönlich geboten – diesseits und jenseits (also weitergehend) von Berufsordnung, Gesetzeslage und ethischer Richtlinien?
An den jeweiligen Rändern von Abstinenz bis zur Kontaktvermeidung und Präsenz bis zur Grenzverletzung: Was halten wir für unhintergehbare Grenzmarkierungen? Was sehen wir dazwischen als Korridor, als professionelles Potential, Entfaltung, Stile, Gestaltungsspielräume, Möglichkeiten?